Nationalästhetik

 


Ausgangspunkt für die Arbeit Nationalästhetik (1968 – 77) waren die Jahre 1968 – 1977 und eine agitatorische Kunstpraxis, in der Ulrich Bernhardt in erster Linie an politischen Collagen und Plakaten und zunehmend auch an Objekten arbeitete. Sein Interesse galt den Lebenszusammenhängen, den „klaren politischen und ökonomischen Verbindungen, die sich in einem Objekt – mehr als in der Malerei – materialisieren“. Auch in der Arbeit Nationalästhetik materialisiert sich ein Stück bundesrepublikanischer Nachkriegsgeschichte, spielt der Entstehungskontext – der Herbst 1977 – eine entscheidende Rolle. Die Stimmung in diesen Tagen war aufs Äußerste gespannt. In der sogenannten Sympathisantenszene befürchtete man großangelegte Razzien und Verhaftungen – jeder schien verdächtig und viele waren unschlüssig, ob sie bleiben oder das Land verlassen sollten. Ulrich Bernhardt erinnert sich an diese Zeit:

„Obwohl ich mir nichts illegales vorzuwerfen hatte, befürchtete ich Schlimmes. Am Tag der Beerdigung der Terroristen glich Stuttgart einem mitelalterlichen Heerlager: Ich wollte diesen historischen Tag unbedingt dokumentieren, weil ich auch Gudrun Ensslin aus meiner Jugendzeit der christlichen Pfadfinder in Tuttlingen kannte. Mit einem abgelaufenen Ausweis des SDR konnte ich mir die Dreherlaubnis sichern, und nun stand ich unter den Journalisten und der Medienmeute, die sich um ein gutes Schussfeld prügelten. Dabei fielen einige Fotoreporter fast in die Gruben. Anschliessend wurden wir alle erkennungsdienstlich erfasst und ich befürchtete, dass das Videoband konfisziert werden würde. Der 1. Band der Ästhetik Hegels wurde zum Versteckcontainer, weil darin sicher niemand das Band vermutet hätte.“

Ein Jahr später entsteht die Arbeit Nationalästhetik, die Zeitdokument und Symbol in Einem ist: Sie zeigt das Zifferblatt einer Bahnhofsuhr, auf dem der der aufgeschlagene erste Band von Hegels Ästhetik befestigt ist, darin eingelassen die Spule eines Videobandes mit der Aufschrift National. Durch das gewaltsame Zusammenfügen scheint das Videoband das Buch gleichsam physisch zu verdrängen, zu zerstören und seines Inhalts zu berauben. Es ist auf seinen Objektcharakter reduziert und läßt einen deshalb an das von Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik heraufbeschworene Ende der Kunst denken. Gleichzeitig wird das Buch einer neuen Funktion zugeführt. Als Kassette wird es zum Versteck, zum Hüter eines Geheimnisses, aber auch zum Verschlußort für ein Videoband, dessen Inhalt unbekannt bleibt.
In den frühen achtziger Jahren wird die Arbeit Nationalästhetik, als Sinnbild für das Ausklingen des Gutenberg-Zeitalters und dessen Ablösung durch das Medienzeitalter, im Rahmen einer Ausstellung für Buchobjekte in der Unibibliothek Freiburg erstmals präsentiert. Weitere Ausstellungen wie z.B. im Württembergischen Kunstverein folgen, bis schließlich die Sammlung des Landes BW das Objekt erwirbt. Für die Rezeption der Kunst spielte der Inhalt des Videobandes nie eine Rolle. So wurde über 27 Jahre ein Stück deutscher Geschichte konserviert, eingeschlossen zwischen den Seiten des Buches.