Mythos RAF

Feuilleton Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2005, Nr. 24, S. 33

Die Eingeschlossenen

Reden wir vom Subjekt: In der Berliner RAF-Ausstellung nimmt die Kunst sich selbst ins Verhör Es gibt Kunstwerke, die erst dadurch, daß sie in einer RAF-Ausstellung gezeigt werden, ihren wahren Sinn enthüllen. Ulrich Bernhardts Arbeit „Nationalästhetik, 1968 – 77“ wurde jahrelang bloß als Sinnbild für die Ablösung der Buchkultur durch die neuen Medien betrachtet: Ein aufgeschlagenes Buch auf dem  Ziffernblatt einer Uhr, darin statt Text ein eingelassenes Videoband. Niemand interessierte sich für den Inhalt des Videos. Der aber ist das
Entscheidende: Aufnahmen von der Beerdigung der Terroristen, die sich im Oktober 1977 im Gefängnis Stammheim das Leben genommen hatten. Das Begräbnis selbst unterlag der höchsten Sicherheitsstufe, auch die Fotografen und Kameraleute wurden erkennungsdienstlich erfaßt. Um sein Videoband herauszuschmuggeln, versteckte es der Künstler im ersten Band von Hegels „Ästhetik“. Als Kunstwerk ist diese Zusammenstellung nun eine Allegorie auf die Kunst im allgemeinen und die heute öffnende Berliner RAF-Ausstellung im besonderen. Man hat den Eindruck, die fast maßlose Medienaufmerksamkeit mit täglichen Vorberichterstattungen, Interviews und Reflektionen ist selbst ein Teil des Phänomens, in das auch die Kunst eingeschlossen ist. Hegel hatte die Sackgassen und Bedeutungsverluste, in die die autonome, immer konzeptueller werdende Kunst hineingeraten würde, vorausgeahnt. Wie kann sie, wenn gedanklich alles ausgereizt und nicht mehr zu überbieten ist, wieder ihre Notwendigkeit unter Beweis stellen – und der produzierende Künstler gleich mit? Wodurch kann sich die Kunst überschreiten, um als Kunst belangvoll zu bleiben? Das ist die Frage, in deren Innerem jetzt die Videoaufzeichnung von einem Terroristenbegräbnis steckt. Das große Rätsel ist, was das bedeutet.
Um dieses Rätsel kreisen alle Arbeiten, die nun in der Galerie „Kunst-Werke“ zu sehen sind. Die meisten messen den Mitgliedern und Taten der „Rote Armee Fraktion“ eine Bedeutung zu, die sich aus den äußeren Tatsachen kaum ableiten läßt. Bekanntlich hat die Gruppe fast keine Verbrechen verübt, die ein unmittelbar politisches Ziel hatten; fast alle ihre Aktionen waren Beschaffungskriminalität oder Befreiungsaktionen. Die Bedeutung, die ihnen beigemessen wurde und wird, lag im Inneren: in ihren Absichtserklärungen und ihrem Gestus des Untergrunds, der Konspiration. Das Bindeglied zwischen Terror und Kunst war das existenzielle Pathos, mit dem sich die RAF umgab.
„Reden wir vom revolutionären Subjekt, vom Entstehen. Von der Dekolonisation des Bewußtseins. Vom 24-Stundentag unserer Aufgabe und unseres Ziels“, hieß es bei Gudrun Ensslin.
Das traf offenbar den Nerv einer wieder einmal nach Tat und Verbindlichkeit strebenden Kunst, ebenso wie den einer Generation. Hätten sich die Achtundsechziger damals schon so gesehen, wie sie sich heute sehen, als fröhliche Jugendbewegung, die mit sex, drugs & rock’n’roll die Bundesrepublik liberalisierte, hätte es die RAF vermutlich nie gegeben. Doch dieses nachträgliche Bild trifft bestenfalls die Hälfte der Geschichte: Die andere Hälfte war die ganz unironische und unmetaphorische Vorstellung, an einer Revolution teilzunehmen. Bis heute noch wirkt der Unwille, sich selbst zu einer rein reformistischen und ästhetischen Bewegung zu verkürzen, im Kokettieren mit der gewalttätigen Radikalität nach.
In der 1998 entstandenen Videoinstallation „Outtake“ des Amerikaners Dennis Adams bietet der Künstler Passanten auf dem Kurfürstendamm Filmschnipsel aus Ulrike Meinhofs Dokumentation „Bambule“ von 1969 an, ihrer letzten öffentlichen Arbeit. Die  hrfürchtige Art und Weise, wie jeder einzelne Schnipsel nun in Händen gehalten und den Menschen auf der verkehrsumtosten Straße dargeboten wird, läßt sich nur mit liturgischen Vergleichen beschreiben.
Die Bilder, die ihre Bedeutung erst durch Einweihung in ihren biographischen, politischen und historischen Zusammenhang bekommen, erscheinen hier als eine Art Sakrament, das der achtlosen Welt ausgeliefert wird. Diese Ehrfurcht vor dem Zusammenhang ist der  emeinsame Nenner vieler Bilder. Nicht, daß sie den Terrorismus rechtfertigten: Diesen Vorwurf kann man der Schau nicht machen. Aber sie unterstellen dem Terror ein geradezu mystisches Wesen, das jedenfalls mehr über sie als ihn verrät. Der mit schwarzen Fäden gefertigte
Zeichnungen-Zyklus „Triangel“ von Michaela Melián, der einen Gutshof in der Lüneburger Heide zeigt, bekommt gerade in seiner schwebenden Leichtigkeit erst Gewicht, wenn man weiß, daß dort Bernward Vesper, der Verlobte Gudrun Ensslins, aufwuchs. Noch in die unscheinbarsten Details der Lebens- und Leidensgeschichten der Terroristen versetzen die Werke sich hinein, umsogleich wieder von ihnen in etwas diffus bleibendes Allgemeingültiges hinein zu abstrahieren. Franz Ackermann ließ sogar eine Art Mini-Hubschrauber konstruieren, wie ihn die Terroristen seinerzeit bauen wollten. Der 1967 geborene Johannes Wohnseifer entwarf ein Gebilde („spindy“, 1995) mit den
exakten Maßen des Schranks, in dem Hanns Martin Schleyer gefangenhehalten wurde, und plazierte eine Skateboard-Rampe hinein. Der Künstler selber, erläutert der Katalog, hatte ganz in der Nähe von dem Versteck des Entführten gespielt. So fällt auch noch auf die Biographie des später Geborenen ein Abglanz der damaligen Phantasien.
Die beruhigende Versicherung der Kuratoren Klaus Biesenbach, Ellen Blumenstein und Felix Ensslin, die Ausstellung beschäftige sich gar nicht mit der RAF, sondern mit Medien und Kunst, entspricht durchaus der Realität. Doch auch die Schau selbst ist in dieses Spiegelkabinett eingeschlossen. Auch sie sucht mit ihren Präsentationen von Zeitungsseiten der Zeit einen möglichst vermittelten, kühlen Zugang, verzichtet zugleich aber nicht auf die unterschwelligen Zeichen von Gefahr. Diese Doppelstrategie kennzeichnete auch die vielen Interviews mit Felix
Ensslin, die, ohne daß darin etwas Persönliches oder Politisches preisgegeben wurde, schon durch den Nachnamen des Kurators als Sohn Gudrun Ensslins für die nötige Authentizität sorgten. Ein Gutteil der Arbeiten nimmt direkt auf die von den Medien produzierten Bilder Bezug. Aber diese bearbeiteten Reproduktionen suggerieren keine Objektivität. Auch der vielgerühmte Zyklus „Die Toten“ von Hans-Peter
Feldmann, der Fotos aller umgekommenen Terroristen und ihrer Opfer zeigt, wirkt vor allem durch die Behauptung eines tragischen, fast mythischen Zusammenhangs, der von der Tötung Benno Ohnesorgs seinen Ausgang genommen habe. Gerhard Richter machte die Verschwommenheit des medialen Bildes in seinen berühmten Gemälden ausdrücklich zum Thema; in der Ausstellung sind einige Tafeln von verwischten Fotos seines „Atlas“ zu sehen, die man als Vorstufe dieser Gemälde betrachten kann.
So kreist die ganze Ausstellung um ein Nichts in ihrer Mitte, und in ihren besten Momenten reflektiert sie das, also die Kunst. Über Realitäten jenseits dieser kollektiven Stimmungen findet man wenig, über den Kommunismus nichts, zu den Morden vor allem die „Kreuze (Russische Friedhöfe, Leninistische)“, mit denen der Aussteiger Felix Droese 1980 in fast meditativer Art der Opfer gedachte. Schon 1972 wies der listige Joseph Beuys die Kunst allerdings wieder aus ihrem Trauma heraus. „Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Dokumenta V“, stand auf zwei Schildern, die er später in Filzpantoffeln steckte: Die Kunst als Resozialisierungsmaßnahme für den Terror, nicht umgekehrt. So weit muß man erst wieder kommen.

MARK SIEMONS
Kunst-Werke, Berlin, bis 16. Mai. Der zweibändige Katalog kostet 45 Euro.

Kastentext:
Pläne, den „Mythos RAF“ auszustellen und mit Mitteln des Hauptstadtkulturfonds zu finanzieren, waren 2003 auf
heftige Kritik auch von Hinterbliebenen der Opfer gestoßen. Heute wird die Ausstellung mit überarbeitetem Konzept
und privat finanziert in Berlin eröffnet.

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