Mao 2017 – Datenfrosch

Liebe Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger,

auf den Tag genau vor 50 Jahren stellten zwei Studenten ein riesiges Mao Porträt auf den Schloßplatz.
Wir ehemalige Studenten protestierten damit gegen die Springerpresse, die gegen die rebellische Jugend hetzte. Nun sind wir 75 Jahre alt, und unsere Begeisterung für Mao ist ernüchtert. Inzwischen gibt es in China eine neue Kulturrevolution. Sie marschiert nicht mehr mit Mord und Totschlag und Vernichtung der Kulturgüter, sondern schleicht mit leisen digitalen Trippelschritten wie auf Taubenfüßen einher und bestraft nicht nur, sondern belohnt auch brave, folgsame Bürger. ¹

Doch ihr renitenten Stuttgarter habt 2010 mutig, kreativ und massenhaft gegen S21 demonstriert und Deutschland eine unvergessliche Lektion erteilt für einen:

Widerstand gegen profitorientierten high-tec-Wahnsinn

 

Ihr machtet damals eine heftige Erfahrung mit einer mafiösen Struktur aus Politik, Bauwirtschaft und Banken, die die Selbstzerstörung Stuttgarts vorantreibt und seither sich nicht aus dem Staub gemacht hat.
Dies ist ein nur Mosaiksteinchen in ein einem weitaus gefährlicheren Konglomerat: Im heutigen Daten-Kapitalismus finden Banken, weltweite Konzerne, Politik und Wissenschaft in einem unheimlichen Projekt zueinander, das von Technik und Wissenschaft  getragen wird. Es läßt eine brave new world entstehen, in der vermutlich die wenigsten von uns gerne leben wollen. Ihre  Protagonisten verführen uns mit immer neuen überzeugenden Segnungen und Erleichterungen.
Die Wohltaten des Großen Datenfroschs und seiner high-tec-Brüder und Schwestern Diese Frösche machen Blinde sehend, geben den Tauben ein Gehör zurück, lassen Lahme wieder gehen und besiegen den Krebs. Während sie unser Auto steuern, können wir uns bequem in die Bild-Zeitung vertiefen. Der Datenfrosch regelt auch die ungeheuren Warenströme weltweit – ohne ihn würden die meisten von uns inzwischen verhungern. Sein Auge wacht überall. Er jagt hochexplosive Terroristen, treibt die Börsen zu schwindelerregenden Geschäften an und macht uns digital unsterblich. Ist das nicht toll?

Also, liebe Stuttgarter:

„Es lebe der Große Datenfrosch! Hoch die Gen-Technologie und die Robotik!“

Wäre da nicht diese verdammte Kehrseite!

Die Frösche machen uns unaufhaltsam zu Cyborgs, zu Mensch-Maschinen-Einheiten. Schon heute werden wir verdrahtet, verkabelt, rücken uns die Geräte, Prothesen und Implantate von allen Seiten auf und in den Leib. Unsere Privatsphäre löst sich auf.
Millionen Augen überwachen uns auf Schritt und Tritt und unsere intimsten Gedanken. Wir werden zu beobachteten Tieren im totalen Datenzoo. Dazu in einer Sphäre, in der sich analoge und virtuelle Realität unaufhaltsam durchdringen. In der bald seltsame transgene Tiere herumlaufen zwischen genmanipulierten Pflanzen und intelligenten Robotern. Wer steuert eigentlich diese ganze unheimliche Entwicklung? Auf jeden Fall nicht wir. Wir füttern nur täglich die Frösche mit Daten, aber wir kontrollieren und steuern sie nicht. Das übernehmen vielmehr weltumspannende Unternehmen, wie z.B. Google für uns. Ihre hehren Ziele dabei sind Profit und Macht. Von diesen Zielen würde sie auch eine heranrückende Weltkatastrophe nicht abbringen. Und unsere Regierungen sind dagegen zunehmend machtlos. Dazu taucht eine neue Macht am Horizont auf: die genetische Manipulation beschert den Reichen Kinder mit hohem Intelligenzquotient, optimierter Gesundheit und als Hollywood Beauties in paradiesischen Gettos.
Gibt es eine Lösung für diese unser Demokratie bedrohende Gefahr? Eigentlich nur die:

Wir müssen diese Prozesse selbst steuern und kontrollieren!

Und für dieses Ziel, das, wir geben es zu, utopisch erscheint, könnte uns ausgerechnet der Große Datenfrosch selbst unschätzbare Dienste leisten. Ermöglicht er doch die Verabredung von Vielen über den gesamten Erdball in kürzester Zeit – so fördert er
potentiell den weltweiten Widerstand. Denkt an den Arabischen Frühling im winterlichen Globus. Wer hätte dies vergessen, dass er ohne Handys undenkbar gewesen wäre?

Nur eine gerechte Gesellschaft, ohne monopolistische Herrschaftsstrukturen und Superprofiteure, kann die gefahrvolle wissenschaftlich-technische Transformation der Welt sinnvoll gestalten!

Deshalb, liebe widerstandserfahrene Stuttgarter Bürger, sollten wir uns auf den Weg machen:

zu einer gerechten Weltkommune, für eine nachkapitalistische freiheitliche Gesellschaft, in autonomen Assoziationen und mobilen Vernetzungen!

Zentralrat der umherschweifenden Digitalrebellenhaufen

V. i.S. d. P. U.Bernhardt & E. Siepmann

 

¹ Ein „gesellschaftliches Bonitätssystem“ soll jeden Chinesen erfassen und seine „Vertrauenswürdigkeit“ mit Plus- und Minuspunkten einstufen. Das Ministerium für Staatssicherheit entwickelt ein flächendeckendes System der Gesichts-Erkennung, das innerhalb von drei Sekunden jeden der 1,3 Milliarden Chinesen mit 90-prozentiger Sicherheit identifizieren soll. So entstehen Untertanen, die fleißig arbeiten und konsumieren, sich selbst zensieren und „sozial funktionieren“.

 

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