Homo Hetero

 

Weder geht es um Buchkunst noch um das Kunstbuch, also nicht das schöne Buch und nicht um das Buch über das Schöne. es ist das heilige Buch (ahd. haila = eigen), das Buch Gott zu eigen, das Ulrich Bernhardt ausstellt, zweifach: In einem Kasten aus lichtreflektierendem Plexiglas mit den Maßen 54/39/10 liegt links »Die Bibel« nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen, herausgegeben von der Deutschen Bibelgesellschaft, rechts die »Benedikt-Bibel« mit dem Wappen des Papstes auf dem Kunstledereinband.
Die Luther-Bibel ist ohne Einband, die einzelnen Hefte des Buches werden durch drei Klammern zusammengehalten, die Aufschriften sola, solus, sola tragen. Mit den Aufschriften ist gemeint: sola scriptura, solus Christus, sola gratia. Nur die heiligen Schriften, das Evangelium (gr. eugeliou= gute Botschaft) ist für die evangelisch Gläubigen maßgeblich und nur Christus und die Gnade Gottes verbürgen ihr Seelenheil. An der Stirnseite des Kastens ist links die Vorsilbe Hetero( gr. heteros = anders, verschieden) und rechts die Vorsilbe Homo (gr. Homos = gemeinsam, gleich) graviert.

Es ist wohl nach katholischer Doktrin die evangelische Christengemeinde heterodox anders- gar irrgläubig, zumindest von der Allgemeinheit beanspruchenden katholischen Lehre (gr. Kata = über…hin, holos=ganz) abweichend. Von seiner kardinalen und bischöflichen Klerokratie fordert das unfehlbare vatikanische Oberhaupt eine homologe Kathetik, während der höhere evangelische Klerus sich gelegentlich eine heterogene Exegese gestattet.
Derart der externen Interpretation fähig ist Ulrich Bernhardts Werk ziemlich komplex, obwohl er beide Bücher nicht etwa verfremdet abbildet, sondern einfach nur zeigt, das evangelische allerdings durch Verweise ergänzt, andererseits ohne Einband entkleidet, in der roh zusammengehaltenen ungebundenen Fassung, das katholische hoheitlich in Golddruck glänzend in einem schneeweißen, weichen Lederimitat gebunden.
Die Benedikt-Bibel ist darstellendes, Dargestelltes und Darstellung zugleich, fallen doch darstellendes Mittel und dargestelltes Objekt in eins und ist doch die Darstellung lediglich eine Vorstellung, nur Präsentation, nicht Repräsentation. Das Buch präsentiert materialiter vorerst sich selbst, mag es auch weitestgehend das Christentum überhaupt repräsentieren, in all seiner internen Interpretation, mag es gerade in seinem autoritären Anschein externe Kritik insinuieren.
Die evangelische Bibel ist im materiellen Mittel dem bedruckten, ungebundenen nur gefalteten Papier, der Verklammerung und Verschraubung zu einem von ihm verschiedenen dargestellten Objekt manipuliert und durch Verweise kommentiert, also interpretiert, doch ist die Manipulation und die Interpretation leidlich offen, belässt ästhetischen Spielraum, ist eben verweisend und nicht unterweisend, ist spannend wie durch die Konstellation beider Bücher – das Werk im ganzen, und insofern ist das Werk ein Kunstwerk.

Dr. Karl Gfesser